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Titel
Damit die Chemie stimmt. Die Anfänge der industriellen Herstellung von weiblichen und männlichen Sexualhormonen 1914–1938


Autor(en)
Ratmoko, Christina
Reihe
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik 16
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 24,50
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alexander Preisinger, Wien

Der rasante wissenschaftliche Fortschritt im Bereich der Hormonpräparate seit 1900, vor allem in den 1920/30er-Jahren, popularisierte Wissen, prägte Vorstellungen über Geschlechtseigenschaften und war wesentlicher Bestandteil von Wunschträumen ewiger Jugend und sexueller Potenz. Der sich im Pharmabereich zunehmend engagierenden chemischen Industrie widmet sich die Studie von Christina Ratmoko, wenngleich der breit angelegte Titel der Arbeit irreführend ist: Tatsächlich steht im Zentrum das schweizerische Unternehmen Ciba (Gesellschaft für Chemische Industrie in Basel) und sieben seiner zwischen 1918 und 1938 entstandenen Hormonpräparate. Der Autorin geht es mit dieser Untersuchung neben der wissenschaftshistorischen Perspektive zugleich auch um die Behebung eines Forschungsdefizits, wurden doch bisher die Anfänge der endokrinologischen Forschung in der Schweiz kaum beforscht (vgl. S. 12).

Der Aufbau des Buches ist chronologisch und nach den patentierten und wortgeschützten Keimdrüsen- und Hormonpräparaten (Agomensin und Sistomensin; Prokliman und Androstin; Perandren, Ovocyclin und Lutocyclin) geordnet. Methodisch geht die Autorin nach dem „biographischen Ansatz“ (S. 19) vor: „Mit dem biographischen Ansatz werden Arzneimittel als Dinge gefasst, die durch die unterschiedlichen Kontexte einerseits verändert werden, andererseits jedoch auch ihre Umwelt verändern können. Den Dingen wohnt eine Gestaltungskraft inne.“ (S. 19) Allerdings beschränkt sich die Arbeit nur auf die erste „Lebensphase“ der Produkte, die mit der jeweiligen Markteinführung endet. Zwei Aspekte stehen im Zentrum der Arbeit: Zum einen der Vorgang der Wissensgenerierung, mit seinen komplexen Austausch- und Wechselwirkungsprozessen zwischen Ciba-interner und -externer Forschung, den marktstrategischen Überlegungen und dem allgemeinen Stand medizingeschichtlicher Praxis (insbesondere bei Testungsverfahren und Indikatoren). Zum anderen liegt der Fokus der Arbeit auf dem Bereich Geschlechtergeschichte, will die Autorin doch „die Funktion der pharmazeutischen Industrie bei der Konstruktion und Verfestigung der Geschlechtlichkeit der Substanzen analysieren“ (S. 14), denn es sind gerade die popularisierten Vorstellungen von bestimmten weiblichen und männlichen Hormonen, die bis in die Gegenwart wirksam sind und die essentialistische Vorstellung einer Geschlechterdichotomie prägen. Ratmokos Werk, an der Schnittstelle von Wissen, Praxis und Wirtschaft (vgl. S. 18), geht damit über eine reine Wissenschaftsgeschichte hinaus und fügt sich passend in die von David Gugerli herausgegebene Reihe „Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik“ ein. Als Quellen wurden vor allem das Firmenarchiv von Novartis und der Nachlass von Nobelpreisträger und Ciba-Kooperationspartner Leopold Ruzicka herangezogen.

Im ersten Kapitel steht die Unternehmensgeschichte der Ciba im Vordergrund: Die ursprünglich als Teerfarbenfabrik gegründete Ciba begann Ende der 1880er-Jahre, wie andere Chemieunternehmen zu dieser Zeit auch, mit der Entwicklung von patentrechtlich geschützten pharmazeutischen Originalpräparaten. Dem Unternehmen gelang es, vom stark wachsenden Markt für Heilmittel zu profitieren, und expandierte rasch; 1913 beschäftigte es bereits 2.000 Mitarbeiter und besaß mehrere internationale Standorte, unter anderem in Südamerika. Gleichzeitig wuchs und professionalisierte sich auch die pharmazeutische Abteilung: Die 1890 gegründete pharmazeutische „Probierstube“ (S. 36) wurde nach und nach in ein pharmakologisches Laboratorium umgewandelt, das vor allem mit Tierversuchen arbeitete. Neben dem pharmakologischen Wachstumsmarkt war es auch das neue schweizerische Patentrecht, das zu Innovation und Investition anregte. Wurden 1920 rund zehn Prozent des Umsatzes mit Pharmaprodukten gemacht, so waren es 1930 bereits 27 Prozent (S. 46).

Die folgenden Kapitel sind der Erfindung jeweils bestimmter Substanzen gewidmet und zeigen auf, wie die erstaunlich „ungleichen Wege“ (S. 249) der Wissensproduktion verliefen:

Kapitel 2 behandelt die Einführung, die erste „Lebensphase“ (S. 47), der Spezialitäten Agomensin und Sistomensin im Zeitraum von 1914 bis 1927. Beide Medikamente versprachen bei Menstruationsstörungen Abhilfe; Agomensin stimulierte, Sistomensin hemmte die Blutungen. Die Erfindung der beiden Produkte dokumentiert die damals gängige Praxis der „Prozess- und Produktionsinnovation“ (S. 75): Die Ciba kaufte 1915 den Wissenschaftlern Ludwig Seitz und Hermann Winter zwei Extrakte ab, die aus dem Gelbkörper, dem Corpus luteum, hergestellt worden waren; Mittel, die in Tier-, Selbst- und klinischen Versuchen bereits getestet und deren Indikationen und Dosierungen bereits bekannt waren. Die Ciba beschränkte sich jedoch nicht auf das Kopieren des Verfahrens, sondern extrahierte aus dem Corpus luteum „Agomensin“ und „Sistomensin“ und schuf damit gleichnamige Originalpräparate, die 1918 auf den Markt gebracht wurden. Die Wirksamkeit beider Präparate war von Anfang an umstritten, was aber auch damit zusammenhing, dass es keine einheitlichen Kriterien für die Testung gab.

Das dritte Kapitel ist dem Auf- und Ausbau der firmeninternen wissenschaftlich-pharmazeutischen Abteilung und der Propagandaabteilung im Zeitraum von 1921 bis 1931 gewidmet. Im Fahrwasser des populären und massenmedial inszenierten Interesses an Hormonen und ihren Heilversprechungen – vor allem im Bereich der Verjüngungsforschung – verstärkte das Unternehmen seine Anstrengungen in diese Richtung. Begründet wurde der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens auch von einer neuen Propagandaabteilung, die nicht nur für Werbung zuständig war, sondern auch Sonderdrucke von Gutachten an Ärzte verteilte, unliebsame wissenschaftliche Publikationen zu verhindern suchte und Mediziner bezahlte, die in ihren Kliniken die Mittel testeten und Gutachten verfassten.

Zwei Präparate zur Behandlung der Wechseljahre sind die Gegenstände des vierten Kapitels: Prokliman, ein Extrakt aus den Ovarien, diente zur Behandlung von klimakterischen Beschwerden und wurde aus marktstrategischen Überlegungen rasch lanciert (1927). Das Medikament richtet sich an die „Dame von Welt“ (S. 137) und damit gegen eine Pathologisierung der Wechseljahre. Deutlich länger dauerte die Entwicklung des Hodenextrakts Androstin als Präparat, das zur Behandlung der männlichen Wechseljahre zum Einsatz kommen sollte. Es wurde jahrelang im Industrielabor und von Kliniken untersucht und modifiziert, denn es war unklar, bei welchen Indikationen das Präparat Anwendung finden sollte.

Waren die benötigten Reinsubstanzen bis dahin per Extraktion aus organischem Material gewonnen worden, so wurde die Herstellung durch synthetische und industrieller Verfahren in den 1920/30er-Jahren zunehmend dringlicher, zumal in den „goldenen Jahren der Endokrinologie“ (S. 253) ein wahres Wettrennen um die Erforschung von Substanzen einsetzte. Von der Einführung der künstlich erzeugten Sexualhormone – Perandren (1936) sowie Ovocyclin und Lutocyclin (1938) – handelt das fünfte Kapitel. Die Ciba sah sich am Beginn der 1930er-Jahre zunehmend im wissenschaftlichen Rückstand zur Konkurrenz und suchte die Zusammenarbeit mit dem an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich tätigen Professor für Chemie und Nobelpreisträger Ruzicka (1887–1976). Eine Zusammenarbeit, die im Bereich der Steroidchemie außerordentlich erfolgreich war und ein, im Sinne Flecks, „Denkkollektiv“ (S. 197) bildete. 1934 gelang dieser Kooperation die künstliche Herstellung von Androsteron, doch das Patenrecht verhinderte die Herstellung, waren doch auch Verfahren in der Schweiz patentrechtlich geschützt. Ein Jahr später kooperierte das Unternehmen mit dem Konkurrenten Schering; der „Forschung im Kartell“ (S. 213) gelang die künstliche Herstellung von Testosteron und damit des Produkts Perandren. Weitere Kooperationen erfolgten 1937 mit Schering und fünf weiteren Firmen („Testosteronvertrag“ und „Abkommen über weibliche Hormone“) bzw. 1939/42 (Viererabkommen über Corpus-luteum-Hormone), die zur Entwicklung der weiblichen Hormonpräparate Ovocyclin und Lutocyclin führten.

Insgesamt zeigt Ratmoko anhand der Darstellung des ersten „Lebensabschnitts“ verschiedener Ciba-Präparate das Wechselspiel von patenrechtlichen, marktstrategischen und wissenschaftlichen Entscheidungen sehr deutlich auf. Trotz der Dichte an medizinischem Vokabular und den komplexen und sich teilweise überlagernden Ereignissen, gelingt es der Autorin, durch eine übersichtliche Gliederung und einen klaren Satzbau, das Thema auch für den Laien im Gebiet der Medizin- bzw. Wissenschaftsgeschichte zugänglich zu machen. Exkurskapitel, etwa zum Verfahren der klinischen Prüfung oder der Erforschung des weiblichen Klimakteriums, verorten die spezifische Unternehmensgeschichte in einem breiteren historischen Kontext. Entsprechend ihres geschlechtergeschichtlichen Ansatzes bleibt die Autorin nicht bei der rein deskriptiven Auswertung des umfangreichen empirischen Materials stehen, sondern zeigt deutlich auf, welche Bedeutung die Ciba-Präparate für die Konstituierung von Geschlecht hatten. So erfüllten gerade die Hormonpräparate die Erwartungen an die Geschlechterdichotomie, obwohl schon Mitte der 1930er-Jahre erwiesen war, dass eine geschlechtliche Hormonzuordnung nicht möglich war. Die Monographie ist Ratmokos veröffentliche Dissertation, die im Rahmen des Graduiertenkollegs „genderstudies Schweiz“ entstand und mit dem „Henry-E.-Sigerist-Preis“ (2008) der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften ausgezeichnet wurde.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/